Mary am Meer

Monat: Februar, 2012

Für L

Das viele Schlafen hatte ihren Augen den Glanz genommen. Ihr Mund lächelte, sie spielte die Heiterkeit, die sich ihr entzog. Vom schlafen redete sie. Wie sie eine Woche geschlafen hatte. Geschlafen, getrunken. Betrunken, geschlafen. Wie ihr die Träume immer mehr genommen hatten, bis sie- als sie doch einmal aufwachte- die Leere ansprang wie ein verwundet-verzweifeltes Tier.

Sie war ausgeraubt worden. J. hatte sie vergessen, noch bevor er sich ihrer erinnert hatte. Sein Heldentum bestand in dem einen Treffen, in dem er ihr mitteilte, dass er emotional bankrott war, ein fürchterlicher Mensch, den es nicht zu lieben lohnte, selbst überhaupt unfähig zu lieben. Sie fuhr ihm über den schönen Mund mit dem Schnurrbart, den sie so mochte, dieses Gesicht, das sie schon erkannt hatte, bevor er sich zum ersten Mal zu ihr umdrehte: „Nicht auch das noch. So billig nicht. Sag, dass es an mir liegt. Wenigstens das bist du mir schuldig!“
 Gar nichts war er ihr schuldig, das wusste sie, aber sie wusste auch, dass er es ihr abnehmen würde und dann sagte er: „Stimmt. Wenn jemand ganz besonderes gekommen wär, der mich aus meiner Gleichgültigkeit reißen könnte. Das bist du nicht!“

Sie hatte professionell gelächelt, „Na, siehst du!“, gesagt: „Geht doch!“ und dann hatte sie ihn getröstet, weil sie nicht diejenige war und er fuhr fort, ihr Vorwürfe zu machen, sie habe ihn damals zu diesem Kuss gedrängt und irgendwie auch zu diesem Treffen.
 Und sie waren zusammen weiter gelaufen, jeder führte den anderen an seinen Lieblingsplatz, der auch der seine war. Das Tageslicht hatte J´s mystischen Schimmer ausgetrocknet. Sie wollte ihn auch ohne ihn.  Später würden die Freundinnen sagen, dass sie ihn nur wollte, weil sie insgeheim wusste, dass er ihr nicht nachgeben würde, da er bereits an das gebrochene Leben vergeben war.
Sie hatten sich dann freundschaftlich getrennt. Und er hatte die Arme offen gehalten, von Möglichkeiten gesprochen, die ein Wiedersehen erhoffen ließen oder sogar in Aussicht stellten; unverbindlich, versteht sich.

J war der Mann gewesen, der ihr schon seit Jahren in ihren nächtlichen Träumen begegnete, ihr Traummann im wortwörtlichen Sinn. Es war ein verwirrendes Wiedersehen in der realen Welt. Sie verstand nicht, wie diese wahrsagerischen Träume trügen konnten und sie, L in seinen nicht vorkam. Es hätte anders sein sollen. An diesem Abend sprach sie nur leise vom Universum und möglichen Veränderungen. 

Uns allein

Wir wischten mit der Leere den Tisch, den wir deckten, 
aßen die Worte zum Frühstück. Sie klebten uns
wie tausend tote Gummibärchen im Bauch. 

Wir machten uns auf,
kehrten zu uns zurück, kehrten es
unter den Teppich,
verschwörten uns Schweigen, 
zogen uns aus
waren darunter nur nackt,
zogen uns an,
und versprachen uns
ewige Reue.

Wir verbanden uns
und verwunde[r]ten uns,
da es keine Heilung gab,

verunglückten uns,
küssten uns
nasse Fremdheit ins Gesicht.

Wir verzogen uns
und verschickten uns Briefe,
in denen stand: Von Herzen! 

So glaubten wir uns,
dass es da-zwischen
uns,
etwas wie Liebe gab.

In Wellen

Vielleicht ist es eine Wahrheit, dass ich zum  Meer passe. Ich selbst ein Verlauf einer getriebenen Welle, die versucht ein Recht auf Selbstbestimmung für Wellen zu etablieren. Fast alle Menschen mögen das Meer. Ich kenne sogar eine, die will dort Karotten züchten. Dann wäre sie glücklich.
Fast alle Menschen mögen das Meer. Ich fürchte mich vor ihm.

Kurz vor Mitternacht [kein Tagebucheintrag]

Mein Herz ist wund getippt aus Sehnsucht. Sie stapeln sich übereinander. Wolkenkratzer aus Worten, die nichts bedeuten. Willkürlich angeordneter Haufen, die mich nichts und niemandem näher bringen. Im besten Fall geduldete Worte, nachsichtig oder neugierig  gelesen. Sag nicht, es sei anders. Wenn du mich nur ein wenig mögen würdest, dann könntest du mich nicht schweigend lesen, leiden sehen und schweigend weiter lesen, so als wären meine Worte nur ein Stern, dem du zusiehst, obwohl er  in seiner Bedeutung längst erloschen ist, darauf reduziert, dir ein wenig Zerstreuung zu sein. Aber auch das ist mir egal. Lies oder nicht. Ich schriebe auch auf einer verlassenen Wand.

Ich habe gelogen. Ich verstecke mich hinter meiner Sehnsucht und betrüge sie mit Heiterkeit. Es ist mir nicht egal. Ich bin überzeugt, ich habe es anders verdient. Aber wer ist das nicht? Zeig mir einen, der meint sein Leben sei gerecht an ihn verteilt worden. Und Hassan Al Asmar- ein ägyptischer Schnulzensänger- muss bis in alle Ewigkeit singen: Das Buch meines Lebens- Oh weh- es gibt kein Buch gleich ihm. Die Freude [darin] sind zwei Zeilen und der ganze Rest ist Qual.

So schlimm hat es mich dann doch nicht getroffen. Und ich möcht gern glauben, dass man mich mag. Um mit Bridget Jones zu sprechen: So wie ich bin. Manchmal mache ich mir Sorgen, wenn ich mir erlaube in diese Welt der Schrift zu entschwinden, die zwischen der realen und der fiktiven ihre Räume hat. Nie denke ich mir aus, wie ich es mir wünschte. Es gibt kein second life für mich. Nur das eine und diese Zwischenräume hier, in denen ich mir erlaube, jemandem zu schreiben, den ich nicht sehe. Das tun viele, nur an mir sieht es aus wie ein erbärmliches Kleid, irgendwie mitleiderregend. 

Die Kernkompetenz des Frühlings

„Fahrradfahren ist eben nicht deine Kernkoptenz!“, ruft eine Mutter ihrem hinter sich fahrenden Sprössling zu, den Berg in der Bergmannstraße heruntersausend. Ein wenig später an der kleinen Straße, die in die Fidicinstraße führt am Wasserturm vorbei- an dem gerade ein Bettlacken klebt auf dem sowas wie: „Schöne Wohnungen im Kiez für Gutbetuchte. Und Harz IV Empänger ab in die Platte. Nicht mit uns!“ steht- ein genervter Vater auf dem Rad, dahinter ein auf dem Fahrrad überfordert abgehetztes Mädchen mit unsicherer Stimme: „Auf was wartest du denn, Papa?“ Und er mit grob-gemeiner Stimme: „Na ouf dich. Wat denn sonst!“.

Es ist kalt. aber der Frühling pfeift schon aus allen Löchern. Egal wie früh er kommt, nie kommt er früh genug.
Langsam durchschaue ich das Getue des Frühlings. Er flößt einem gute Vorsätze ein, er sieht sich gerne in der Rolle des wahren neuen Jahres. So denke ich wieder an mindestens drei Wochen Heilfasten und jeden Tag laufen gehen, bewusster leben, mich und die Wohnung renovieren, jeden Tag aufräumen, Fenster putzen und dabei zufrieden mit mir sein. Und im Kopf sind richtige Bilder von der potenziellen neuen M, wie sie glücklich und strahlend durch die Welt läuft und so ganz nebenbei alle mit sich zieht.
Diesmal habe ich es aber durchschaut. Jedes Jahr dasselbe Spiel und ganz ehrlich Frühling, ich möchte das nicht mehr. Biete mir etwas realistischeres an. Dann können wir reden. Hilf diesem kleinen Mädchen da vorne, es braucht Liebe jetzt sofort. Und wenn du schon dabei bist: Mach doch, dass ich mich mag, gerade so wie ich bin. Irgendwie sowas. Aber führ uns nicht länger an der Nase herum. Fass du dir lieber mal an deine. Du bist auch nicht mehr das, was du mal warst. 

Lost in Berlin

Ich sollte rausgehen heut Nacht. Lost in Berlin sein, ohne Ziel einfach mal herumlaufen, schauen und angeschaut werden. Ziellos durch den Dschungel dieser Stadt ziehen, mich in ihren Armen treiben lassen, im Schutze der [be]trunkenen Masse ausziehen. Einfach einmal losgehen.
Doch ich habe vergessen wie man das macht oder nie gelernt und so sonne ich mich lieber feige im Schatten meiner Wörter und verstecke mich in ihrem Schutz. Ich lese fern und sehe das Leben der anderen.

Ich würde gerne den Fragen den Rücken kehren und alle Neins streichen, für eine Nacht. Ich würde gerne bei denen Klingelstreiche machen, die ich vor den Kopf stieß mit meiner Unbedürftigkeit nach ihnen. Dann würde ich, wenn das „Ja?“ ertönt laut: „Es tut mir leid!“ rufen und schnell das Weite suchen.

Heute im Park bei strömender Sonne, kam mir der Gedanke, was ich wohl antworten würde, würde mich- rein theoretisch- irgendjemand jemals fragen [auf was man für Ideen kommt!], was für ein Gefühl ich verkörpere. „Die Sehnsucht!“, wäre meine Antwort: „Ich bin die Sehnsucht und wenn ich ganz viel Glück haben sollte: die Erfüllung derselben.“
Ich möchte mir selbst davonlaufen, mich in jemand anderem verlaufen, mich hoffnungslos verlieren. Hätte ich doch die Mütze Mut mich auf den Hermannplatz zu stellen und „Gegen diese verdammte Einsamkeit!“ zu brüllen.
Aus sicheren Quellen, weiß ich, dass fast jeder sie kennt. B sagt, egal wie viele Freunde man hat und wie wichtig die einem sind, am Ende ist man immer allein.
Und jeder weiß, dass er diese Leere nicht mit allen Freunden der Welt stopfen kann. Sie ist ein bodenloses Loch. Und doch möchte ich jeden umarmen, an dem ich sie spür. Ich glaube an ihre Beseitbarkeit. Man muss es nur fest genug wollen. Ich will. Aber jetzt geh ich schlafen. Gute Nacht!

Was ich heute morgen auf die Notizkarten kritzelte

Über die Anschaffung eines Notebook:
In Ermangelung eines eigenen Pc´s gespickt mit dem Wunsch, die Schrift auch mit der Hand fließen zu üben, lege ich mir demnächst ein Notizbuch a Din3 zu. Das lege ich dann neben mein Bett und connecte es mit einem fein schreibenden, schwarzen Stift durch Ketten [am besten] aus Blei.
Mein Heft darf nicht schön sein, sonst schämt es mich, es zu benutzen. [Schönheit benutzt man nicht. Schönheit bewundert man oder fügt ihm ebenbürtig Schönes hinzu.] Mein Heft soll außen schwarz sein und innen weiß.
Meine Schrift ist die Kodierung anstelle eines Schlosses, dessen Schlüssel ich eh keine Geduld zu tragen hätte. Auf diese [eigentlich nahe liegende] Idee brachte mich der 1-Euro-Laden, genauer: ein Artikel mit einem Block und einem Stift auf dem stand: Notebook with pencil.. Und ich notierte ohne Buch: Notebook heißt eigentlich Notizbuch oder Notenbuch.

Proletarisches Geschlechterdilemma:
Und sie so: „Das kannst du doch gar nicht vergleichen!“
Und ich: „Das ist doch genau das gleiche!“


Und einen Satz, der zu viel von sich hält:
Die Welt ist ein Konglomerat an austauschbaren Beliebigkeiten.

Und das andere habe ich nach hier verschoben.

Über müde Hummeln im Hintern

Je länger die Jahre ihre Kreise ziehen, um so leichter lastet der Zeitdruck auf deiner Brust. Irgendwie weiß man [oder hat es sich glaubhaft eingeredet], dass es nichts mal schnell zu erhaschen gibt. Die Gier nach Finden sitzt schwerfällig tief unten auf dem Bodensatz deiner Selbst.
Erkenntnisfunken fliegen nicht mehr unvorhersehbar durch unbekannte Orte und du bist nicht länger Spurensucher, jederzeit bereit zur Jagd.
Auch du hast dich gesetzt und [ein wenig] warten gelernt. Fast als wärst du nun vom Schmetterlinge fangen  aufs Angeln umgestiegen. Doch du lauerst auch der Fische nicht. Du schulst geduldig deinen Blick.
Nah sind die Dinge geworden und die Ferne verspricht dir nichts [mehr, was sie nicht halten kann].
Du weißt, wer du bist: der Fisch, der Schmetterling. Wenig kannst du tun. Es findet dich. . Und deshalb sticht die verstreichende Zeit dich nicht länger mit ihren Hummeln in deinen/m Hintern. Weil du es endlich eingesehen hast. Losgelassen. Brav gemacht. 

Es gibt einen Mann

Es gibt einen Mann. Nicht in meinem Leben. Nein, es gibt ihn in seinem Leben. Irgendwo läuft er da gerade herum und macht was weiß ich was. Er ist Mann mit einem feinen Gesicht, Wimpern wie mit der Wimpernzange nach oben gebogen, etwas zu blass.  Aber obwohl ich Lust bekomme, ihn zu schminken und ihm Frauenunterwäsche anzuziehen, ist er mehr Mann als die meisten Männer, kein weinerliches Weichei, sondern mit einer ebenso gewissen wie undefinierbaren Festigkeit.
Er ist ein Mann bei dem die Frau sehr durchscheint. Das gefällt mir.

Er ist mir gar nicht ähnlich, nicht äußerlich und trotzdem [oder deswegen?] erkenne ich mich selbst in seiner Zartheit. Er wäre nicht wirklich fähig, dominant zu sein.. Etwas in mir ist ihm ähnlich, in seinem Mannsein.  Und auch wenn ich den Freudschen Penisneid für einen großen Unsinn halte, den sich eben nur ein Mann  in seiner narzisstischen Selbstfixierung ausgedacht haben kann, gefalle ich mir einen Moment als imaginärer Mann und überlege wie es sein mag, ihn zu küssen.

PS

Heute AVL Klausur abgehakt= ein Stein weniger im Schuh. Mühsam erholt sich das Eichhörnchen. Die Klausur war scheiße [ihr versteht schon: nicht die Klausur, sondern meine Antwort auf die Aufgabenstellung], weil sich mein Kopf  schon die Tage davor nicht auf denken umschalten ließ. Das wird noch ein Problem werden, die hartnäckige Weigerung meines Körpers, trotz meines ausgeprägten Wunsches nach Anpassung und Erfüllung aller möglichen und unmöglichen am mich gestellten Erwartungshaltungen, mir jederzeit hilfsbereit zu Diensten zu sein. Je älter ich ich werde, um so stärker sabotiert er mich. Wahrscheinlich hat er langsam die Schnauze voll von mir- ich kann es ihm nicht Übel nehmen.
„Und wie geht es dir?“, fragt B: „Schon besser als gestern in deinem Text?“ „Ja, das habe ich gerade über die Erleichterung des Klausurhintermichbringen vergessen.“, antworte ich und sie sagt mir, dass es eines meiner besten Texte ist und jedes Wort davon so wahr. Idiotischerweise geht es mir durch das Lob meines Weltuntergangtextes gleich [noch] ein Stückchen besser.
[Es wäre doch noch schöner, wenn meine Verzweiflung sich durch ein wenig Bestätigung in Luft auflöst.]
„Wahr?“, frage ich: „Aber doch nicht immer. Das wäre schlimm, wenn jedes dieser Worte immer wahr wäre:“ Sie schaukelt ihren schönen Kopf und will etwas sagen, das aber nicht für die Ohren der Bahn gedacht ist, was wir deshalb vertagen.

Auf dem weiteren Weg nach Hause versinke ich in den wattigen Wolken und hoffe so fest ich kann, dass sie mir niemals alltäglich profan werden-auch sie sind ein Grund, es mit dem Leben weiter zu versuchen.

Buckelträger

Niemand hat gesagt, dass es leicht sein wird. Aber so schwer? 
Für alle, die auch [fast] nicht mehr können: 

Was würdest du geben, dir selbst zu entkommen? Was würdest du tun für Ferien von dir! Auf wie viel Arten hast du schon versucht, dich aus zu drücken? Doch du wirst immer wieder auf dich zurückgeworfen. Dein Leben saugt gierig deine Kraft aus deinen Knochen, als wäre es der Tod im Schafspelz.
Ein wenig mehr Druck und du kannst nicht mehr. Fast wartest du auf den Moment, der den Ausnahmezustand ausruft und dich von der Last des Funktionieren befreit. Der Gedanke an Verantwortung hält dich wie eine Paketschnur zusammen.
Die Schuhe drücken. Jeder Schritt wird zur Qual. Die Liste, der dringenden Dinge, passt auf kein Papier der Welt. Alles, was du schreiben kannst, hat die Form einer Anklage. Die will niemand hören. Du schweigst. Du schreist. Das will auch niemand hören. Die Welt ist zu laut.


Deine Kinder stellen sich dir entgegen.  Zu ihrem Besten- das verstehen sie nicht. Sie ringen dich zu Boden. Und du weißt, selbst wenn du alles andere hinschmeißt, hast du kein Deut mehr Kraft für diese Art alltäglicher Kämpfe gegen dein eigen Fleisch und Blut. Es gibt keine Lösung.

Und du erkennst mit Schrecken: Diese ewige, nie mehr weichende Müdigkeit bedeutet Erwachsensein! Niemand hat es dir gesagt, niemand hat dich gewarnt. Jeder trägt seinen Buckel allein. 

Kontrastbahnhof Mehringdamm

Gestern auf dem neuen, noch nicht fertigen Bahnsteig Mehringdamm [der meiner Meinung nach extra so stylisch umgestaltet wurde, dass er Touristen &Filmemacher lockt], stand eine alte Dame, neben ihr zwei Security-Männer. Mein erster Gedanke war: Ist sie wohl schwarz gefahren? Und dann erkannte ich ihre rosanen Plüschmorgenmantel und den Schlafanzug darunter. Ich glaube, sie hatte auch nur Hauspantoffeln an. Das ganze war recht peinlich. Alle Leute starrten sie an. Und ich hätte ihr am liebsten eine große Decke umgehangen, die ihre Würde bedecken sollte und vor den vielen Augen beschützen. Meinen Blick, habe ich selbst so schnell es ging wieder abgewandt, aber ich meine noch gesehen zu haben, wie sich in ihren desorientierten, verwirrten Blick, etwas wie Erkennen mischte und Scham. So als erwachte sie gerade in einem Alptraum.

Vielleicht sollte ich das humorvoller betrachten können, aber es brach mir ein wenig das Herz. Diese kleine rosamäntlige alte Dame auf dem modernen, kalten Bahnhof Mehringdamm, den Blicken einer neugierigen Masse ausgesetzt. 

Dieses enge Gefühl

Immer wenn du gehst, hinterlässt du mir nichts als Wut. Nicht weil du gehst, sondern weil du überhaupt gekommen bist. Und es ist egal wie du´s versuchst, niemals wird es wie es war, deiner Meinung nach.
Fragt man meine Erinnerung, ist es nie gut gewesen. Es ist keine kalte Wut und auch keine warme. Es ist eine temperaturlose Wut auf alles, was schief gelaufen ist, auf die beschissenen Jahre, die ich nun wie damals fest vorgenommen, hinter mich gebracht habe, trotz dir, mit dir, ohne dir, wegen dir. Ich habe nie gezählt, wie oft du mich im Stich gelassen, mit deinem Mist hast sitzen lassen, wie oft deine Wort gebrochen hast. Achtlos hast du die Scherben auf dem Boden liegen lassen und ich sollte sie einkehren, darüber hinweggehen, als sei nichts gewesen. Tausend Mal ein weißes Blatt aufschlagen, tausend Mal von vorn anfangen, bis mein Leben sich wie Gitterstäbe immer enger um mich zog, ich keine Luft mehr bekam und alles, um was ich damals bat war, dass die Jahre schnell vorüberziehen.
Und ich träumte dunkle Träume von weißen Blättern, wie sie mich verschlangen und zerbrochenen Worten, die sich wie Splitter in meine Füße bohrten. Nie warst du zufrieden, nie war ich so, wie du es haben wolltest, bis ich mich weigerte dieses farblose Lügengebäude weiter mit zu tragen- da ich längst unter ihm zusammenbrach- und auf einmal lag all dein Glück in meinen Händen. Die Gitter zogen sich enger. Ich war längst nicht mehr da, aber das war dir egal, solange du meinen Namen weiterhin penetrieren konntest und dich an meinem Körper satt riechen, während dieser sich über deinem übergab. Ergeben konnte ich mich nie. Mich aufgeben, hab ich hart versucht. Aber da standen drei davor, denen ich anderes versprochen hatte.
Freigekämpft habe ich mich mit Biegen und Brechen, gegen alle Erpressungsversuche, dunklen Drohungen, alle Verzeihungsersuche, Liebesschwüre, mitleidsheischenden Hundeblicke, die ganzen emotional-sozialen Drücke. Allein habe ich das durchgezogen, was wir zusammen begangen haben.
Ich bin so wütend. Du weißt es nicht.

Viertel vor Durchblick & Zwei andere

Es war Viertel vor
Durchblick,
du hattest viele kleine
Falken
im Gesicht und ein paar
Krähen
zu deinen Füßen,
grau versiertes Haar und
warm melierte Augen mit
Schiefblick auf……

mich,
mit schwarz verlocktem
Wirrwarr im Haar,
vollmöndigen Brüsten und
verstreute Zuckerwatte
im Weitblick.

Der Zweck eiligte die Mittel
im selben Augenblick
trafen sich
unsere Augen
Blicke
vielversprechend.

………………………………………………………

Vögel in Japan

In Japan weinen
die Vögel, in Japan
singen sie nicht.
Furchtsam, filigran
fabelhaft weiß gefaltete Vögel
mit Tränen
anstelle von Federn
im Gesicht.

So sind die Vögel-
in Japan. 

…………………………………….

M wie Müde

steifer nacken
buckelwale. auf
einen tag
wachen, zwei
nächte schlafen
immatrikuliertes murmeltier
winterzeit
im schlepptau
immergrünender müdigkeit.

Ins Dunkle

Müde begegnen wir uns. Nur im Dunklen lässt sich unsere Scham überwinden. Deine Augen bohren nicht mehr  in mich hinein. Das Schwarz schmeichelt mir.

Die vertraute Fremde hat sich zwischen uns niedergelegt. Unsere Körper berühren sich nicht. Wir sind uns nah. Ein kleines Geräusch kommt aus deinem Mund. Es klingt, als wolltest du sprechen, es aber bleiben lässt. Zu ähnlich ist die Dunkelheit einem Beichtstuhl und zu stark haften deinen Worten die Bitte nach Vergebung an. 
Du rührst mich, sage ich ganz leise. Etwas an dir, rührt an mir von je her. Als sei dir ein Teil entrissen worden und du hältst dich mit aller Kraft zusammen, trägst deinen Verlust vor allen verborgen mit dir herum. Du läufst ein wenig schief, wie ein Baum, den der Blitz traf. Das wollte ich dir lange schon sagen, sage ich ins Dunkle hinein. 

"Mühlenberg geht auf die Welt zu" von Andreas Prybylski

Die erste Geschichte in „Flüsse ausgraben“, ist die Geschichte eines Mannes, namens Mühlenberg, die uns in drei Kapiteln in sein Leben einführt. Obwohl die einschneidenden Stationen mit Sprüngen von einigen Jahren Abstand, chronologisch angeordnet sind,  findet eine anachronistische Entwicklung Mühlenbergs statt. Er kommt aus der unverarbeiteten Vergangenheit [Nationalsozialismus], die sich sich in Mühlenbergs Gegenwart infiltriert und nähert sich seiner eigenen Vergangenheit an [Mühlenberg vor 25 Jahren], in dem er sich auf seine Art aus den Gefängnissen der Gegenwart befreit. Diese Entwicklung geht weich und fließend in einander über, die Jahre dazwischen scheinbar bedeutungslos.

1
Die Geschichte fängt mit dem Zusammentreffen seiner zukünftigen Frau Margot an: 
„Mühlenberg schloss die Augen, weil er dachte, er habe genug freien Raum, um die nächsten drei Schritte mit geschlossenen Augen gehen zu können. Mühlenberg öffnete die Augen wieder, als er einen Leib spürte, an seinem Leib, und die Stimmen einer Frau hörte, die einen Schrei ausstieß und ihm aus allernächster Nähe in die Augen sah..“

Mühlenberg schließt die Augen, weil er meint, die Welt müsse groß genug sein, drei Schritte mit geschlossenen Augen zu tun. Aber er irrt sich. Nicht einmal für diese drei Schritte ist Platz. Er stößt mit einer Unbekannten zusammen. Dem ganzen haftet nichts romantisches an, es ist vom möglichen kaputten Handy die Rede und von Schadensersatz. Doch es funktioniert, das Handy und Margots: „Sie haben Glück.“, bezieht Mühlenberg zu erst nicht auf das intakte Handy. Er war in Gedanken versunken, dachte an sein fremdbestimmtes Leben, in dem er sich selbst zu Konformismus und in Regeln gezwungen wahrnimmt.
Sie wären spurlos wieder auseinander gegangen, wenn nicht Mühlenberg ein Insekt in Margots Haaren entdeckt hätte, das er vorsichtig entfernt. Er berichtet mehr von diesem lieb gewonnen Insekt als von Margot, nennt aber immerhin ihren Namen drei Mal. „Und als er aufsah, war Margot immer noch da.“, damit endet das erste Kapitel. 
2
Mühlenberg bricht eine Tür auf und verletzt sich seinen Zeigefinger. Er ist von seiner eigenen Hochzeitsfeier mit Margot geflohen. Beim Standesamt war er noch dabei [fühlt sich jedoch schrecklich], aber dann kann er nicht mehr und flüchtet in den alten Schlosshof, der ein ehemaliges Arbeitslager der Nazis war. Er kommt mit den Zeiten durcheinander, denn das, was er selbst nicht mehr erlebt haben kann, ist für ihn noch spürbar. Unter den Zeilen wird eine Verwunderung deutlich, wie schnell das Leben wieder in die Routine einer alltäglichen Normalität gepresst wurde: „Alles hinterlässt Spuren. Hier ist nichts zu sehen, nichts von dem, was gewesen war. Ein Lokal, in dem getanzt wurde. Ein Arbeitslager. Zwang. Vorbereitungen zur Vernichtung. Nichts hat Spuren hinterlassen. Es wurde getanzt. Es wurden Leute in ein Lager gesperrt. Es hat sich zu viel übereinander geschichtete, die widersprüchlichsten Dinge, bis nichts mehr erkennbar war und so ist es mit allem.“
3
„Ein Mensch arbeitet sich immer noch heraus, denkt Mühlenberg, heraus aus Abhängigkeiten; das ist immer noch vor einem, in jedem Fall. Man geht auf die Welt zu und kommt nicht an, denkt Mühlenberg.“ 
Und dennoch hat sich Mühlenberg befreit. Er geht durch einen Wald, in dem er vor 25 Jahren zusammen mit anderen Friedensaktivisten  gegen den stationären Aufenthalt der Armee zur Übungszwecken [mit Atomraketen!] protestiert hatte. Mühlenberg hofft niemanden zu treffen, den er kennt. Sein Wunsch wird ihm erfüllt. Mühlenberg ist bei sich angekommen. 
Gerade diese erste Geschichte erschloss sich mir [wenn man das überhaupt behaupten darf. In ihr gibt es noch sicher sehr viel mehr zu entdecken.] erst nach konzentriertem Lesen. Jeder Satz trägt etwas starkes, bedeutungsvolles in sich und drückt sich gleichzeitig oft durch subtile Andeutungen, etwas zwischen den Zeilen, aus. Da ist Nähe und Ferne, die sich immer wieder, auf verschiedenen Ebenen miteinander vermischen. Auch Mühlenberg selbst bleibt sonderbar verschwommen. Zum einen lernt man ihn, durch seine feine Gedanken und seine hohe Sensibilität lieben, zum anderen bleibt er dem Leser fern, da er scheinbar etwas anderes als Nähe zu Menschen sucht. Was er genau sucht und dann wohl auch irgendwie findet, bleibt ungesagt. Es hat etwas damit zu tun, sich das Recht zu nehmen, sich selbst sein zu dürfen.
Mühlenberg wurde seine Introvertiertheit zum Vorwurf gemacht.  Er entzog sich den beruflich und privaten Zwängen am Ende, und ist seinen Weg in seinem eigenen Tempo gegangen.
Ich frage mich, ob Mühlberg jemanden an seiner Seite geduldet hätte, wenn er jemanden getroffen hätte, der ihm ähnlicher ist. Denn er ist keinesfalls ein Misanthrop. Als er im heruntergekommenen Tanzsaal/Arbeitslager ein Mädchen regungslos auf einer Matratze sieht, geht er nicht weg, sondern nähert sich ihr, um zu helfen. Aber auch das wird missverstanden und erschreckt stolpert Mühlenberg davon. 
Ich jedenfalls hätte ihn gern kennengelernt, eine Person wie Mühlenberg. Ob ich sensibel genug sein könnte, ihn zu begleiten?

Ein wandelnder Wunsch

Ich wünsche mir eine Geschichte mit jemandem. Eine Geschichte, die wir miteinander teilen und hinterlassene Spuren, auf die wir zurückblicken können. Etwas verbindendes zwischen zweien. Vertrautheit, aber auch Mut, sich etwas fremdes zu bewahren. Dieser Wunsch hat nichts brennendes mehr an sich, noch etwas beklemmendes. Seine Erfüllung hat Zeit. Ich streiche jeden dritten Satz. Und alles, was ich dazu schreibe ist ungelenk. Ich übe noch und deshalb hat es Zeit.